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Dienstag, 2. Juli 2019

"Die Entflohene" von Violaine Huisman



Das Thema
Ihr Fahrstil war sportlich, mit quietschenden Reifen fuhr sie über jede rote Ampel der Champs-Elysées, in der linken Hand die Zigarette, in der rechten das Steuer, auf dem Rücksitz die beiden Töchter. Catherine konnte ausrasten, ihre Kinder unflätig beschimpfen, um sie gleich danach in Liebe zu ertränken. Die kleine Violaine und ihre Schwester lieben die Mutter abgöttisch, aber sie ist krank, sie ist manisch-depressiv. Mit gnadenloser Aufrichtigkeit und großer Wärme erinnert sich Violaine Huisman an ihre schöne, witzige und widersprüchliche Mutter. Ein temporeicher, aufwühlender Roman über eine sehr unkonventionelle Familie.

© Klappentext-, Cover- und Zitatrechte: S. FISCHER


Seht zu, wie ihr zurechtkommt!, das war der ewige Refrain ihrer Litaneien, sie sagte, wir sollten uns verpissen und nicht dauernd angeschissen kommen, wir sollten mal damit aufhören, auf die ganze Welt zu scheißen, wir sollten endlich kapieren, dass sie sich einen Scheiß für die Fragen und Sorgen verhätschelter fauler Gören interessierte. Sehr zu, wie ihr zurechtkommt, ihr kotzt mich an mit euren bescheuerten Problemen! Das war aber nicht das Ende von Mamans Beschimpfungen, in der Regel fingen sie so erst an. - S. 12


Das Leseerlebnis
Violaine Huismans Roman "Die Entflohene" war nicht nur eine persönliche Empfehlung an mich, das Buch, bzw. die Geschichte ist zudem ein autobiographisches Debüt, weckte darum sofort mein Interesse. Ich kann kaum ermessen, wie weit die eigenen Erinnerungen zurückreichen, wie stark das Buch die Wirklichkeit wiedergibt. Seine Wirkung verfehlt es nicht. Der Roman ist eine Hommage an die eigene Mutter, die, manisch-depressiv und sehr exzentrisch, einen großen Einfluss auf das Leben ihrer Töchter hatte. Aus der Geschichte spricht ebenso Kritik wie Akzeptanz, Verstörung wie Verherrlichung ... und bedingungslose Liebe.

Der Erzählstil von "Die Entflohene" ist hochwertig und ausdrucksstark, passend zum feudalen Leben von Mutter und Töchtern in einem Frankreich der 1980er Jahre und früher. Dass dies ein eher anspruchsvolles Lesen ist, wird bereits beim ersten Satz klar, der sich verschachtelt über eine vollständige Buchseite zieht. Als Leserin wuchs ich an jeder Seite, lernte die Stimme der Autorin zu deuten und wurde mehr und mehr in die Geschichte gezogen.

Um die Gesamtsituation zu überblicken, vielleicht auch, um Verständnis für das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter/Töchtern zu schüren, ist der Roman in drei Teile unterteilt. In Teil 1 erzählt Violaine über ihr Leben als Kind und das Verhalten und die Beziehung zu ihrer Mutter Catherine. Das war für mich, selbst Mutter, verstörend und beklemmend zu lesen. Die manisch-depressive Catherine agiert ihren Töchtern gegenüber wie ein unberechenbarer und zerstörerischer Hurrikan, nur im sie im nächsten Moment in Fürsorge und Liebesbeteuerungen zu ertränken oder sich komplett aus deren Leben zurückzuziehen.

In der Teil 2 wechselt der Roman von der Ich-Erzählerin zum personalen Erzählstil, denn nun rekonstruiert die Autorin das Leben ihrer Mutter, deren Kindheit, diverse Ehen, Ideen und Exzesse. Das ist so anschaulich und mitreißend wie irritierend. Mit diesen Hintergründen jedoch, ist das Verhalten Catherines, ihren Töchtern gegenüber, plausibler. Noch immer schlimm, aber verständlicher.
Bemerkenswert ist die bedingungslose Liebe, die Kinder ihren Eltern entgegenbringen können. Die nicht so sehr von Verhaltensweisen abhängig ist und tiefer und einzigartiger ist, als das von einer außenstehenden Person oder Leser*in wahrgenommen wird. Davon erzählt Teil 3 der Geschichte, in der Violaine vom Danach erzählt und ihrer Aufarbeitung der Beziehung zu ihrer Mutter. Ich konnte sie verstehen, war trotzdem am Ende komplett durchgeschüttelt.

Das Fazit
Welche Auswirkungen Exzentrik und die psychische Krankheit einer Mutter auf das Leben ihrer Tochter haben kann, das thematisiert "Die Entflohene", der autobiografische Debütroman von Violaine Huisman. Dass der Roman gleichzeitig eine Hommage und Aufarbeitung ist, ist der tiefen Liebe, der Bindung zwischen Mutter und Kind geschuldet. Eine Person, die das von außen betrachtet, wird es verstehen, auch wenn die Umstände hart, manchmal schwer zu akzeptieren sind und das Buch stark polarisiert. Ausprobieren lohnt sich! 4 von 5 Sterne vergebe ich dafür.


© Damaris Metzger, www.damarisliest.de


S. FISCHER (April 2019) - Hardcover mit Schutzumschlag, 256 Seiten - 22,00 € [D]
Originaltitel: Fugitive parce que reine - Übersetzt von Eva Scharenberg