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Freitag, 26. Juni 2015

Review zu "Hellwach" von Hilary T. Smith



FISCHER FJB (April 2015),
Broschur, 368 Seiten,
übersetzt von Jenny Merling,
14,99 € [D]


Das Leben meiner Eltern ist so strahlend, als wäre es gar nicht echt. Es hat eine klinisch saubere Frische wie Schnittblumen, eingeschweißt in Zellophan. Mir wird schwindelig davon. Seit dem Tod meiner Schwester weiß ich, Leben ist Chaos.

Es gibt die eine Version, wo der Klavierwettbewerb das Wichtigste auf der ganzen Welt ist und ich ehrlich und gehorsam bin. Und dann gibt’s die Version, in der die Erwartungen meiner Familie irgendwie völlig bizarr und unwichtig sind. Ich schlinge die Arme um die Knie, weine und lache und suche nach meinem iPod, damit ich die passende Musik dabeihabe. Ich bin hellwach, von innen beleuchtet, und begreife, dass das Universum mir heute Nacht einen Einblick schenken will - einen Einblick in etwas Großes. Und ich habe Angst, dass sich diese Tür zu etwas Wunderschönem vielleicht schließt und nie wieder öffnet, wenn ich die Chance jetzt nicht nutze. (Text-, Cover und Zitatrechte: FISCHER FJB)


Ich kann nur noch das machen, was ich schon den ganzen Sommer hätte tun sollen: üben. Ich spiele Bach, Beethoven, Chopin, Debussy und Fish. Dann Fish, Debussy, Chopin, Beethoven und Bach. Ich spiele über die Sorgen hinweg, die mir durch den Kopf kriechen. [...] Ladys und Gentlemen, die Lage ist so ernst, dass ich eigentlich fünf Klaviere bräuchte. - S. 303/304


Meine Meinung
Schon vor Lesebeginn musste ich mindestens einmal täglich an "Hellwach" vorbeilaufen. Das Buch mit dem kreischenden Cover zog mich immer wieder aufs Neue an. Und dass, obwohl ich mir kein rechtes Bild machen konnte, was mich in diesem Roman erwarten würde. Jetzt, im Nachhinein, ist sogar die chaotisch bunte Gestaltung verständlich. Denn genau so ist die Geschichte auch. Chaotisch-wach, laut und sehr provozierend.

Kiris Eltern gehen auf eine Kreuzfahrt und lassen ihre Tochter den ganzen Sommer über alleine zu Hause. Im Grunde kein Problem, denn Kiris Alltag und ihre häusliche Pflichten sind klar definiert. Sie lebt für ihr Klavier, die gemeinsame Band mit ihrem besten Freund und muss dann nur noch an die Azaleen im Garten denken, die regelmäßig gegossen werden müssen. Doch nach einem seltsamen Anruf wird Kiri vom Tod ihrer Schwester Sukey eingeholt. Denn dieser war nicht so, wie es ihr von den Eltern erzählt wurde. Es wird ... verrückt.
Anfangs liest sich "Hellwach" wie ein Jugendthriller, inklusive viel Musik, Freundschaft und Drogen. Ganz normal eigentlich.

Da fällt mir ein - Lukas hat es "vorübergehend" genannt. Eine vorübergehende gegenseitige Anziehung. Seiner Meinung nach könnte sie unserer Musik im Wege stehen. Diese Haltung basiert auf seiner völlig bescheuerten Theorie, dass sich Liebe und Musik ausschließen. Und nicht etwa die phantastischste und explosivste Mischung ergeben würde, die man sich überhaupt vorstellen kann. - S. 39

Plötzlich kippt die Handlung und läuft völlig aus dem Ruder. Hatte ich bis dahin die Story noch sehr interessiert verfolgt, ertappte ich mich plötzlich dabei, dass ich nicht mehr von den Seiten loskam. Kiri entwickelt eine manische Phase, eine Psychose, verliert dadurch zeitweise den Bezug zur Realität. Sie hinterfragt ihr komplettes Leben und definiert Dinge anders. Gleichzeitig verrennt sie sich in Wunschvorstellungen und erledigt gewohnt-vertrautes wie im Wahn, um nicht völlig den Boden unter den Füßen zu verlieren. Irgendwann realisiert man als Leser, dass Kiri seit Tagen nicht mehr geschlafen hat. Sie ist ständig hellwach, verliert komplett das Bedürfnis zu schlafen. Natürlich bleibt diese Phase von Kiris Umfeld nicht unbemerkt. Es kommt die Zeit, wo sie sich ihrem wirklichen Leben stellen muss.

"Hellwach" wirkt am besten in der Nacht, sagt die Autorin. Und damit hat sie völlig recht. Das Ende des Buches hat etwas Erlösendes und Befreiendes. Man ist mit dem Ausgang zufrieden und wird noch lange Zeit darüber nachdenken.

Fazit
"Hellwach" hat mir sehr wache Lesestunden beschert, und ich erwachte am Ende aus einer Art Leserausch. Dabei ging es mir bei den Charakteren nie um Sympathien oder Antipathien. Ich konnte nicht wegsehen, hatte immer das Gefühl hautnah dabei zu sein, weil das Buch sehr direkt ist. Oft fühlte mich provoziert und war gleichzeitig überrascht, wie verständnisvoll ich seitens Kiri denken konnte. Nach dem positiven Schluss war es sehr laut in meinem Kopf, das Buch war ständig in meinen Gedanken. Ich bin froh, dass ich nach dieser Achterbahnfahrt die Hauptprotagonistin mit einem guten Gefühl zurücklassen kann. Lesen!

© Damaris Metzger, damarisliest.de