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Freitag, 15. März 2019

"Hinter Glas" von Julya Rabinowich



Das Thema
Wie ein Spiegel ist Alice bisheriges Leben in tausend Scherben zerbrochen. Sie hat die Enge und Stille, die Tyrannei des Großvaters nicht mehr ausgehalten. Und flieht zu Niko, ihrer großen Liebe. Von ihm erhofft sie sich Geborgenheit und Halt. Mit ihm verbringt sie einen Sommer voller Freiheit. Doch dann verändert sich alles: Niko ist zunehmend unbeherrscht. Im Moment der größten Verzweiflung gelingt es Alice, sich aus dem Strudel zu befreien.

© Klappentext-, Cover- und Zitatrechte: Carl Hanser Verlag


Wenn ich ihn nicht kritisierte, ihm nicht widersprach und mich still verhielt, dann war er eigentlich immer noch so süß wie am Anfang. Ich lächelte und schwieg. Es würde sich irgendwie fügen. Es würde schon gehen. Manchmal wusch er sich nicht und roch nicht gut, aber ich schob auch das weg. Wenn man schiffbrüchig ist und im Meer von wilden Wellen umhergeschleudert wird, dann denkt man nicht darüber nach, dass die Planke, an die man sich klammert, müffelt. - S. 153/154


Das Leseerlebnis
Es ist bekannt, dass sich Gewalt, egal welcher Art, von innerhalb einer Familie, oftmals auch auf eine Beziehung außerhalb des familiären Umfelds ausbreitet. Ein Strudel, der mitreißt, der den Betroffenen das Gefühl gibt, immer schuld zu sein, da die Täter die Rolle des Opfers umkehren. Sich daraus zu befreien ist schwierig, und doch hat es Alice, die Hauptprotagonistin aus "Hinter Glas" geschafft. Man kann schon vor dem Lesen davon ausgehen, denn das Buch wird als Geschichte einer Emanzipation beschrieben. Ich war gefesselt, auch ohne den Inhalt zu kennen, wollte hinter das Glas schauen, das Alice umgibt (oder umgab). Am Ende musste ich erst mal tief durchatmen, denn das Buch hat mich völlig vereinnahmt. Es ist so gut, dass man es am Ende gleich wieder von vorne beginnen mag.

Julya Rabinowich beginnt ihre Geschichte mit dem eigentlichen Schluss, einer Ist-Situation, in der sich Alice nun befindet. Sie hat auf einem Flohmarkt einen Spiegel gekauft und trifft dort unverhofft auf ihren Exfreund Niko. Vor Schreck rutscht ihr der Spiegel aus der Tasche und zerbricht in viele Scherben. Dies wird zur Metapher für Alice' bisheriges Leben. Jedes der folgenden Kapitel, in denen Alice Vergangenes erzählt, steht für einen Spiegelscherbe. Bis der Spiegel, und damit auch Alice, am Ende wieder komplett ist.

Alice hält es zu Hause irgendwann nicht mehr aus. Die Familie, unterdrückt vom tyrannischen Großvater, bietet ihr keinen Halt. Darum ist sie auch ständig krank, wird deswegen in der Schule gemieden und gemobbt. Und dann ist plötzlich Niko da, der Alice den Halt gibt, den sie in ihrem Zuhause vermisst. Die beiden reißen aus und dürfen, als sie nicht wissen wohin, bei Nikos Kumpel wohnen. Doch während eines Sommers voller Leben, Freiheit und Glück verändert sich Niko.

Das Buch hat einen so feinen Stil, dass es wohl zu meinen ewigen Favoriten zählen wird. Schwer zu beschreiben, denn der Grundtenor der Geschichte ist leise, wird aber zuweilen auch sehr laut. Mich hat es sofort beeindruckt, dass das Buch nicht reißerisch oder sensationslüstern geschrieben ist. Vieles weiß man als Leser zu Beginn noch nicht, hat erst gegen Ende, Scherbe für Scherbe, einen Gesamtüberblick. So ist zum Beispiel auch Niko nicht sofort der zwielichtige Kerl, bei dem man nach dem ersten Satz Schlimmes vermutet. Nein, er ist sogar ziemlich nice. Er hat eine sehr smarte und süße Art, und ich fand es vollkommen verständlich, dass Alice sich in ihn verliebt, weil sie sich bei ihm wohl und geborgen fühlt. Und obwohl Alice immer wieder in die Opferrolle gedrängt wird, konnte sie mich mehrmals überraschen. Bis zum Ende.

Das Fazit
"Hinter Glas" ist ein leises, aber so intensives Buch, dass es sich am Ende ziemlich laut anfühlt. Es ist einer der Romane, die mich in letzter Zeit am nachhaltigsten beeindruckt haben. Dazu zählt nicht nur die bedeutsame Geschichte, auch der Stil und die Ausdruckskraft sind eine Klasse für sich. Niemals plakativ, dafür sehr feinfühlig und empfindsam erzählt Julya Rabinowich von Alice, einem Mädchen, das sich emanzipiert und damit das Glas zerbricht, das ihr zuvor ein selbstbestimmtes Leben unmöglich machte. Ganz wunderbar! 5 von 5 Sterne vergebe ich dafür.


© Damaris Metzger, www.damarisliest.de


Carl Hanser Verlag (Januar 2019) - Hardcover mit Schutzumschlag, 208 Seiten - 16,00 € [D]
- ab 14 Jahren