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Sonntag, 21. Mai 2017

"Fast eine Familie" von Bill Clegg



Das Thema
Am Morgen der Hochzeit ihrer Tochter geht June Reids Haus in Flammen auf und reißt ihre ganze Familie in den Tod. Nur June überlebt. Taub vor Schmerz, zieht sie sich in ein kleines Motel an der Westküste zurück. Während das Kleinstadtgerede, das June hinter sich lässt, langsam die Wahrheit über das verheerende Feuer hervorbringt, spannt sich unter June unbemerkt ein Netz wahrer Mitmenschlichkeit - es könnte sie auffangen und zurück ins Leben holen.

© Klappentext-, Cover- und Zitatrechte: S. FISCHER


Sie wird gehen. In ihren Subaru Kombi steigen und die kurvigen Landstraßen mit den vielen Schlaglöchern entlangfahren, bis zum Highway, dann weiter, nach Westen, weg von hier. Sie wird so lange und so weit fahren, wie sie kann, ohne Pass, denn ihren Pass gibt es nicht mehr. Den Führerschein auch nicht. Alles, was sich im Haus befunden hat, gibt es nicht mehr. - June, S. 14


Das Leseerlebnis
Nachdem ich den Klappentext von "Fast eine Familie" gelesen hatte, war es um mich geschehen. Ich musste dieses Buch lesen! Bei der Geschichte, einer Tragöde, interessierte mich vor allem die Umsetzung. Und doch war es ein Zitat von Anne Enright, das mir die Erzählung schon vor dem Lesen näherbrachte. Sie bescheinigt dem Buch Optimismus und viel Mitgefühl, deren Macht aus den Trümmern des Schicksals herausziehen kann. Diese Kombination aus Drama und Einfühlungsvermögen fesselte mich dann auch an die Seiten.

June Reid würde sich selbst wohl als die unfreiwillige Hauptperson des Romans bezeichnen. In einer einzigen Nacht, der Nacht vor der Hochzeit ihrer Tochter, verliert sie ihre ganze Familie. Ihren Lebensgefährten, den Exmann, ihre Tochter und den zukünftigen Schwiegersohn. Alle waren im Haus, als es in Flammen aufging, einzig June war im Garten. Doch warum? Das ist anfangs nicht so wichtig. Fakt ist, dass June die Anteilnahme, die neue Lebenssituation - vor allem aber den Schmerz - nicht mehr ertragen kann. Sie setzt sich in ihr Auto, fährt bis ans westlichste Ende des Landes und quartiert sich dort in einem Motel ein. Sie spricht (fast) nichts, isst (fast) nichts, verliert sich selbst komplett in ihrem Schmerz. Zum Glück wird ihr von jemandem die Hand gereicht, von dem sie es überhaupt nicht erwartet hätte.

Von Bill Cleggs Art zu schreiben, war ich tief beeindruckt. Er hat ein Mitempfinden in seinem Stil, ein Einfühlungsvermögen, das ich nur erwarten würde, wenn jemand eine solche Tragödie schon selbst erlebt hat. Dabei wirkt seine Erzählweise eher nüchtern, kommt ohne Kitsch und Pathetik aus.

Die Geschichte selbst ist nicht linear angelegt, vielmehr ist sie ein Puzzle aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Manche Personen treten häufiger in Erscheinen, andere nur ein Mal. Dadurch erfährt man gegen Ende, was sich tatsächlich ereignet hat. Vorher gilt es aber noch diverse Personen zu sortieren und ihr Leben oder Sicht der Dinge zu einem großen Ganzen, das natürlich mit June und ihrer toten Familie zusammenhängt, zusammenzusetzen. Da der Autor hier auch bezüglich Kleinigkeiten sehr ins Detail geht, erschienen mir einige Kapitel etwas lang, vielleicht sogar manchmal zu informativ. Andererseits ist das Buch sehr umfassend. Am Ende war ich vom Gesamtbild, das sich ergab, sehr ergriffen.

Das Fazit
Das Drama "Fast eine Familie" hat mich durch die einfühlsame Erzählung, die komplett ohne pathetischen Kitsch auskommt, berührt und nicht mehr losgelassen. Durch viele verschiedene Sichtweisen, die sich wie einzelne Puzzleteile zusammensetzen, entsteht eine umfassende Geschichte. Zuweilen erscheint sie etwas zu detailliert, zu hintergründig informativ, entwickelt aber eine Dynamik, die bei aller Tragödie ein optimistisches Mitgefühl ausstrahlt, mit dem sich am Ende bei mir eine hoffnungsvolle Zufriedenheit einstellte. 4 von 5 Sterne gibt es dafür.


© Damaris Metzger, www.damarisliest.de


S. FISCHER (Februar 2017) - Hardcover mit Schutzumschlag, 320 Seiten - 22,00 € [D]
Originaltitel: Did you ever have a family - Übersetzt von Adelheid Zöfel