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Mittwoch, 22. August 2018

"Die Hochhausspringerin" von Julia von Lucadou



Das Thema
Riva ist Hochhausspringerin - ein perfekt funktionierender Mensch mit Millionen Fans. Doch plötzlich weigert sie sich zu trainieren. Kameras sind allgegenwärtig in ihrer Welt, aber sie weiß nicht, dass sie gezielt beobachtet wird: Hitomi, eine andere junge Frau, soll Riva wieder gefügig machen. Wenn sie ihren Auftrag nicht erfüllt, droht die Ausweisung in die Peripherien, wo die Menschen im Schmutz leben, ohne Möglichkeit, der Gesellschaft zu dienen. Was macht den Menschen menschlich, wenn er perfekt funktioniert?

© Klappentext-, Cover- und Zitatrechte: Hanser Berlin


Ich muss an Riva denken, wie ich sie zuletzt gesehen habe: weinend am Rand des Sofas, eine isolierte, winzige Figur in einem zu großen Zimmer. Der Gedanke an ihren schmalen, in sich zusammengefallenen Körper rumort in mir.
Ich kann sie dort nicht so sitzen lassen.
Ich möchte zu ihr fahren. Ihr übers Haar streichen. Ihr sagen, dass alles gut wird. [...] Du bist nicht allein, sage ich ihr. Ich bin ja da. Everything's gonna be okay™.

- S. 246


Das Leseerlebnis
"Die Hochhausspringerin" kann man nicht einfach in eine Genreschublade packen. Im Grunde ist es eine Dystopie, aber ohne die Fokussierung auf den Schauplatz eines unterdrückenden Systems. Vielleicht ist der Roman auch eine futuristische (hoffentlich utopische) Zukunftsvision. Oder doch eher eine Gesellschaftskritik? Es ist ersichtlich, eine Beurteilung ist hier nicht leicht. Für mich hat das Buch ein bisschen was von allem, und wichtig ist nur, dass es mich packen konnte. Das hat sich bis zum Schluss dann so stark gesteigert, dass ich sehr lange über die Geschichte nachgedacht habe, und noch immer daran denke.

Hochhausspringerinnen sind in dieser Geschichte Menschen mit einem extrem hohen Status. Von der Gesellschaft abgöttisch geliebt und ständig beurteilt haben sie Millionen von Fans, sind mit heutigen Superstars, eventuell sogar auf einem noch höheren Level, zu vergleichen. Der Star unter den Hochhausspringerinnen ist Riva, die auf der Höhe ihrer Karriere aber plötzlich "die Lust verliert". Sie möchte aufhören, weigert sich von heute auf morgen weiterzumachen, zu trainieren und ihren vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen. Die Angestellte einer Überwachungsfirma, Hitomi, observiert Riva zu jedes Tages- und Nachtzeit, ohne deren Wissen. Hitomi soll eine Lösung finden, Riva zur Wiederaufnahme ihres Trainings motivieren, damit sie ein Vorzeige- und Statusobjekt der Sponsoren bleibt.

Überrascht war ich, dass die eigentliche Hauptperson in "Die Hochhausspringerin" nicht Riva, sondern Hitomi ist. Zwar beobachtet sie Riva, um eine Lösung für deren Verweigerung zu finden, gleichzeitig ist es aber Hitomis eigenes Leben, dass gänzlich mit diesem Auftrag verknüpft ist. Gelingt es ihr nicht, Riva zurückzuholen, droht Hitomi der gesellschaftliche Abstieg, bis hin zur Ausweisung von der Stadt in die Peripherien. Alle Privilegien, ihr Status und ihre Chancen, die sie in der Stadt hat, wären dann vertan. Diesen Prozess zu verfolgen empfand ich als Leserin extrem schmerzhaft.

Insgesamt hätte dem Buch etwas mehr Tempo gut getan. Das ändert aber nichts daran, dass das Szenario, sobald man sich darin zurechtgefunden hat, ungemein fesselt und erschreckt. Die Autorin beschreibt die sehr beklemmende Vision einer Gesellschaft, die perfekt funktionieren soll, in der Überwaschung und die totale Transparenz notwendig, die Anpassung der Menschen gefordert ist. Sie sollen funktionieren. Das gelingt ohne große Erklärungen, und ich benötigte diese auch nicht. Man erlebt die Geschichte, macht sich eigene Gedanken und wird in eine Utopie gezogen, die hoffentlich in dieser Form niemals eintritt.
Die Krönung des Buches ist dann wohl das Ende. Es ist hart und endgültig, denn danach rückt der Prolog des Anfangs in ein neues, grauenerregendes Licht. Ich hatte daran ganz schön lange zu knabbern.

Das Fazit
"Die Hochhausspringerin" ist die düster-intelligente Vision einer Gesellschaft, wie man sie niemals erleben mag, deren Tendenzen für das Heute aber gar nicht mal so abwegig erscheinen. Es ist ein sprachlich brillanter, zuweilen etwas schleichender Roman, der den Leser herausfordert, der die Begabung hat, auf erschreckende Art und Weise zu faszinieren und lange darüber nachzudenken. Am Ende bleibt man fast schon fassungslos und durchgeschüttelt zurück. 4 von 5 Sterne bekommt die Geschichte von mir.


© Damaris Metzger, www.damarisliest.de


Hanser Berlin (Juli 2018) - Hardcover mit Schutzumschlag, 288 Seiten - 19,00 € [D]